Early James – Medium Raw

‘Die Wahrheit ist seltsamer als die Fiktion – nichts überrascht mich mehr.’ So spricht Early James in “Nothing Surprises Me Anymore”. Nein, ein fröhlicher Typ ist er nicht. “Medium Raw” ist das Zeugnis eines Grüblers, jemand, der die Welt und vor allem sich selbst stets mit einem düsteren Blick betrachtet.

Diese Welt ist in erster Linie Troy, Alabama, einer der Südstaaten der USA; der Yellowhammer State, der Cotton State, aber auch die Heimat von Dixie. Vor allem aber ist es der Geburtsort von Fredrick James Mullis Jr. Hier brodelt es fast ständig – und nicht nur wegen des Klimas mit schwülen Sommern, die die Haut feucht und die Zunge wie Leder wirken lassen. Es ist ein Ort voller enormer Gegensätze, die die Bevölkerung spalten. Man fühlt sich dort schnell verlassen und einsam. Ironischerweise ist es der perfekte Nährboden für gequälte Dichter, die ihren Gefühlen in bedeutungsvollen Texten Ausdruck verleihen.

Nein, “Medium Raw” ist kein leicht zugängliches Album, zumindest nicht, wenn man die tieferen Schichten ergründen will. Early James malt Geschichten, gerahmt in einer Mischung aus Americana, Folk, Blues und einem Hauch von Rock, meisterhaft und fast filmisch eingefangen in einem Klangbild, das wie der Soundtrack eines Tarantino-Films wirkt. Dan Auerbach, der für dieses Projekt als Produzent fungiert, versteht es wie kein anderer, mit einer minimalistischen instrumentalen Besetzung eine brodelnde, fast beklemmende Atmosphäre zu schaffen. Eine Dobro, ein akustischer Kontrabass, eine einzelne E-Gitarre, einfache Drums – nichts Überflüssiges. Kombiniert mit Early James’ rauer Stimme entsteht ein Album, das alle Zutaten hat, um ein Klassiker zu werden.

Damit setzt es eine schöne Tradition von Meisterwerken fort, die im Honky Château – eigentlich Château d’Hérouville – entstanden sind. Natürlich “Honky Château” selbst von Sir Elton, aber auch zahlreiche ikonische Künstler wie Fleetwood Mac, Pink Floyd oder Iggy Pop nahmen dort Material auf. Und das, obwohl Aufnahmen in diesem Château alles andere als einfach sind – schließlich ist es kein echtes Studio.

In einem Interview mit Bandcamp erklärt der Singer-Songwriter, wie das Album entstanden ist. Ein altes Mischpult aus den 1950er-Jahren stand in einem der oberen Räume, und Kabel wurden die Treppen hinunter in die verschiedenen Schlafzimmer verlegt, in denen die Musiker ihre Ausrüstung aufgebaut hatten. Für Early James bestand diese lediglich aus einem kleinen Verstärker und einem Mikrofon. Alles wurde so weit wie möglich in einem Take aufgenommen: roh, ehrlich, direkt, ohne Overdubs. Kein Entfernen von Rauschen oder Brummen, wie im Intro von “Dig To China”. Laut James kann man die Seele des Châteaus in den Aufnahmen hören. Hört man “Tinfoil Hat”, versteht man, was der Amerikaner meint: Die Musiker befinden sich in getrennten Räumen, doch es klingt, als stünden sie gemeinsam in der Halle, wo die Gitarren an den Wänden widerhallen. „Es klang fantastisch.“

Vielleicht sind es gerade die Herausforderungen des Honky Château, die dem Album seinen besonderen Charakter und seine Authentizität verleihen. Die Texte erhalten dadurch eine Schwere, die die Songs so kraftvoll macht. So wird “Medium Raw” zu einem Album, das lebt, das man erlebt. Hört das klagende “I Could Just Die Right Now”, einen Blues, wie er sein sollte, mit einer Qual, die jede Faser trifft: ‘Well, I could just die right now, fact I don’t mind if I do. It gets worse before it gets better, I’m pretty good in singing the blues.’

Und dann der Kontrast zum uptempo “Gravy Train”, das fast sorglos klingt. Schmerzhaft sorglos, wohlgemerkt. Es gibt nur Träume und Hoffnung, aber alles wird gut. Was diese Songs verbindet, ist die aufrichtige Emotion, die in jeder gesungenen Note zu hören ist. Das macht “Medium Raw” zu einem der authentischsten Alben, die das Honky Château je hervorgebracht hat. (9/10) (V2 Records)

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