Amadou & Mariam – L’amour à la Folie
Am 8. September 2024, während der Abschlusszeremonie der Paralympischen Spiele in Paris, spielten Amadou & Mariam Serge Gainsbourgs “Je suis venu te dire que je m’en vais” (‘Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich gehe’). Niemand wusste damals, dass sich diese Worte als prophetisch erweisen würden. Sieben Monate später, am 4. April 2025, starb Amadou Bagayoko im Alter von 70 Jahren. Es sollte ihr letzter gemeinsamer Auftritt sein. Drei Tage vor seinem Tod hatte er die letzten Details ihres neunten Albums bestätigt. Dieses Album, “L’amour à la Folie”, erschien am 24. Oktober und ist sowohl eine Liebeserklärung als auch ein Vermächtnis, ein letztes musikalisches Gespräch zwischen zwei Menschen, die fast fünfzig Jahre lang Stimme und Begleiter füreinander waren.
Es ist auch etwas anderes: ein Beweis für die scheinbare Leichtigkeit, mit der Mariam Doumbia weitermacht. Keine Trauerpause, die die Musik stoppt, kein Zweifel, ob sie fortfahren kann. ‘Was sich verändert hat, ist, dass mein Mann nicht mehr an meiner linken Seite ist’, sagte sie kürzlich in einem Interview. Ab Oktober tourt sie mit ihrem Sohn Sam Bagayoko und den vertrauten Musikern durch Nordamerika und Europa und spielt aus einer Gewissheit heraus, die keine Frage, sondern eine Tatsache ist. Das ist, was sie tun. Das ist, wer sie sind. Die Musik geht weiter, weil die Musik immer weitergegangen ist.
Fünf Jahrzehnte Weltmusik neu definiert
Um zu verstehen, was “L’amour à la Folie” bedeutet, muss man zunächst verstehen, was Amadou & Mariam für die Musik bedeuteten. Als Manu Chao 2004 ihr Durchbruchalbum “Dimanche à Bamako” produzierte, öffnete er ein Tor, das jahrzehntelang geschlossen war. Das Album wurde in Frankreich dreifach Platin, verkaufte sich weltweit eine halbe Million Mal und brachte das Duo einem Publikum näher, das nach etwas Echtem suchte – etwas, das vor Lebensfreude sprühte, ohne seine Wurzeln zu verleugnen.
Es folgte eine Karriere, die die Grenzen der sogenannten “Weltmusik” sprengte. Sie spielten nicht nur Festivals, sie standen auf den Hauptbühnen von Glastonbury, Coachella und Lollapalooza. Sie waren nicht nur Vorbands; sie tourten monatelang mit U2, Coldplay und Blur. 2009 kam David Gilmour, Amadous Kindheitsidol, auf die Bühne, um ein komplettes 80-Minuten-Konzert als zweiter Gitarrist zu spielen.
Diese Zusammenarbeit entstand nicht aus Mitleid oder Exotismus. Sie ergab sich aus der Musik selbst – einem Sound, den Mariam stets als ‘Blues und Rock ‘n’ Roll’ bezeichnete, nicht als ‘malischen Blues’ oder andere Etiketten, die die westliche Musikindustrie so gern vergibt. ‘Wir sind mit dem Radio aufgewachsen’, erklärte sie in Interviews zur Albumveröffentlichung. ‘Stevie Wonder, Ray Charles, Pink Floyd, Bad Company. Wir teilten dieselbe Musikkultur.’ Diese Universalität, kombiniert mit Amadous funkelndem Gitarrenspiel und den hypnotischen Rhythmen Malis, machte sie einzigartig – eine Brücke, die sich nie wie ein Kompromiss anfühlte.
Ihr Live-Ruf war legendär. Fans beschrieben ihre Konzerte als ‘eine Explosion der Freude’, Auftritte, in denen Tanzen nicht optional, sondern obligatorisch war. 2012 schrieben sie mit ihren Eclipse-Konzerten Geschichte – vollständig im Dunkeln, für Publikum und Musiker. Ein immersives Erlebnis, in dem jeder die Musik so erlebte, wie Amadou und Mariam sie immer erfahren hatten. Es war charakteristisch für ihren künstlerischen Mut: keine Angst vor Grenzen, keine Zufriedenheit mit dem Offensichtlichen.
Sieben Jahre, ein letztes Gespräch
“L’amour à la Folie” entstand über sieben Jahre hinweg, in Fragmenten zwischen Tourneen aufgenommen. Produzent Pierre Juarez, von Toumani Diabaté wegen seiner Fähigkeit, über der Musik zu schweben, ‘der Astronaut’ genannt, hatte bereits 2017 mit dem Duo am Lamomali-Projekt von Matthieu Chédid gearbeitet. Für dieses Album erhielt er einen klaren Auftrag: Amadous Wunsch nach Blues-Gitarrensoli mit Mariams Bedürfnis nach Tanz und Feier zu verbinden.
Juarez fand seinen Bezugspunkt in “Kobe Ye Watiye”, einem Stück aus ihren frühen Kassettenveröffentlichungen als “Le Couple aveugle du Mali” – nur Mariams Stimme und Amadous Gitarre. ‘Ich wollte das zurückbringen’, sagte er in Interviews, ‘aber dann mit einer heutigen Produktion darum herum, ohne den Kern zu verlieren.’ Das Ergebnis ist das, was er als ein “malisches Lo-Fi-Blues-Album” beschreibt – traditionelle Instrumente neben 808-Bässen aus modernem Hip-Hop, Auto-Tune subtil über Mariams Stimme, ohne die Emotion zu verlieren.
Drei Tracks wurden Busy Twist anvertraut, dem britischen Underground-Dance-Produzenten, der nach Mali reiste, um mit dem Duo zu arbeiten. Seine Afro-Latin-karibischen Einflüsse ergänzen perfekt die räumlichen Klänge von Juarez. Gemeinsam schaffen sie ein Album, das atmet – manchmal eng und minimalistisch, manchmal ausgelassen und voll –, aber immer mit Amadous Gitarre als Kompass.
Der Aufnahmeprozess war einzigartig. Keine traditionellen Studio-Demos, sondern Jams, manchmal zehn Minuten lange malische Trance-Passagen, später zu Songs destilliert. Amadou liebte lange Intros, den Aufbau von Atmosphäre. Dieser Wunsch kollidierte manchmal mit Streaming-Formaten, aber Juarez blieb der künstlerischen Vision treu: ‘Wenn die Künstler mit ihrer Musik zufrieden sind, spielt kommerzieller Erfolg keine Rolle.’
Die letzte Höroperation mit dem Paar brachte das schönste Kompliment: Sie standen auf und tanzten vor den Lautsprechern. Drei Tage später bestätigte Amadou die letzten Details. Er sollte das fertige Album nie hören.
Song für Song durch die Liebe
Das Album eröffnet mit “Bienvenue à la maison”, willkommen zu Hause. Eine programmatische Entscheidung: Dies ist kein Abschied, sondern eine Heimkehr, eine Rückkehr zum Kern dessen, was Amadou & Mariam immer waren. Amadous Gitarre klappert mit jener charakteristischen Klarheit, unterstützt von Mariams Stimme, die einen mitnimmt, ohne zu drängen.
“Sonfo”, mit dem kongolesischen Rumba-Star Fally Ipupa, ist ein Höhepunkt – moderner Lo-Fi-Blues gegen das Gift des Klatsches. Die verlängerte Version, Track 13, lässt dem Song Raum zum Atmen, mit Ipupas Stimme, die sich wie Seide durch die malischen Rhythmen windet.
Dann folgt die Rückkehr, auf die Fans gehofft hatten: “Mogulu”, komponiert von Manu Chao. Zwanzig Jahre nach “Dimanche à Bamako” findet der spanisch-französische Troubadour die Chemie mit dem Duo wieder. Eine Einladung zum Mitsingen, Mittanzen, Mitfeiern. Das Wort bedeutet ‘Menschen’ auf Bambara, und das Lied ehrt genau das: Begegnungen, Reisen, Vielfalt.
Der Titelsong “L’amour à la Folie” trägt nun ein Gewicht, das beim Aufnahmeprozess nicht vorhersehbar war. ‘Chéri, je t’aime jusqu’à la mort!’ singt Mariam. Es ist eine Zeile, die sie zuvor in “M’Bife Blues” gesummt hatte, die jetzt jedoch prophetisch wirkt. Der Refrain, ‘L’amour sans frontières, c’est l’amour à la folie’, beschreibt perfekt, was dieses Album ist: Liebe ohne Grenzen.
“La vie est belle”, produziert von Busy Twist, ist pure Tanzfreude – ein hypnotischer Rhythmus, der die Füße bewegt, bevor der Kopf begreift, was passiert. Amadou & Mariam in ihrer ausgelassensten Form.
Doch das Album ist nicht nur Freude. “Généralisé” hat eine Pink-Floyd-Atmosphäre und reflektiert über die fragile Lage in Mali und der Welt. “On veut la paix” trägt eine Ästhetik der 60er-Jahre-Soundsystems. Momente der Reflexion zwischen der Feier – Erinnerungen daran, dass Amadou & Mariam immer Zeugen ihrer Zeit waren.
Das Album endet mit “Tanu”, einem bezaubernden Lied über Solidarität mit den Worten ‘I am grateful to you, I salute you.’ Heute ist es schwer, das nicht als Mariams Tribut an Amadou zu hören.
Die Ästhetik bleibt, die Bedeutung wächst
Was “L’amour à la Folie” nicht ist: ein radikaler Bruch, ein experimentelles Statement. Was es ist: Amadou & Mariam in ihrer gereiften Form, eine Destillation ihrer Stärken. Die Produktion ist modern, aber nie aufdringlich. Die Songs sind zugänglich, aber nicht einfach. Die Emotion ist spürbar, aber nie sentimental.
Für einige Hörer mag dies ein Manko sein. Nach fast fünfzig Jahren machen Amadou & Mariam immer noch Amadou-&-Mariam-Musik – von Gitarre geprägten malischen Pop, geformt durch zyklische Wüstenblues-Phrasen. Keine überraschenden Stilwechsel. Doch das verkennt, was das Duo immer tat: nicht um der Innovation willen innovieren, sondern vervollkommnen, was funktioniert.
Und was funktioniert, funktioniert außergewöhnlich gut. Amadous Gitarrenspiel bleibt einzigartig. Mariams Stimme vereint Kraft und Zerbrechlichkeit. Die Rhythmen bleiben unwiderstehlich tanzbar. Die Produktion lässt allem Raum.
Manu Chaos Rückkehr passt perfekt. Er war beim Durchbruch dabei, und jetzt ist er zum Abschluss der Duo-Reise wieder da. Keine Nostalgie, sondern Kontinuität – ein Beweis, dass musikalische Chemie kein Verfallsdatum hat.
Mariams Stärke, Amadous Vermächtnis
Das Bemerkenswerteste ist vielleicht, was fehlt: Zweifel. Keine Suche nach einem neuen Sound ohne Amadou. Mariam macht einfach weiter – dieselben Musiker, dieselbe Energie, dieselbe Überzeugung. Sie tourt, spielt Festivals, veröffentlicht dieses Album. Kein Statement, sondern etwas Selbstverständliches.
Das spiegelt, dass Amadou & Mariam sich nie über Tragik definierten. Ja, sie waren blind. Ja, sie kamen aus Armut. Ja, sie verloren Menschen. Doch ihre Musik war immer Freude, Tanz, Kraft. Mariam ehrt Amadou, indem sie weitermacht.
Während der letzten Hörsession tanzten sie gemeinsam. Dieses Bild bleibt: zwei Menschen, die sieben Jahre Arbeit finally hören – und tanzen. Keine Analyse. Keine Kritik. Nur Freude.
Das setzt Mariam nun fort. Nicht aus Pflicht, sondern weil es die Musik verlangt. ‘Wir wollen, dass die Menschen mit uns singen, tanzen, feiern!’ sagte sie kürzlich.
Fazit
“L’amour à la Folie” ist kein perfektes Album. Es wird niemanden überraschen, der das Werk des Duos kennt. Es bietet keinen radikal neuen Blick auf afrikanische Musik. Doch es ist ein wunderschönes, emotional resonantes Werk, das fünf Jahrzehnten Partnerschaft gerecht wird.
Die Produktion ist vielschichtig, aber nie überladen. Die Songs sind stark – “Sonfo”, “Mogulu”, der Titelsong – ohne Ausrutscher. Die emotionale Wirkung ist deutlich, auch wenn man den Kontext nicht überbewerten darf.
Was das Album erhebt, ist die Kombination: musikalische Qualität, historische Bedeutung, der menschliche Aspekt. Eine Geschichte, die 1977 an einer Blindenschule in Bamako begann und einmal um die Welt ging. Amadou ist gegangen, doch seine Musik klingt weiter. Mariam setzt fort – mit der Leichtigkeit dessen, der weiß, dass Musik größer ist als eine Person. (8/10) (Because Music)

