The Cavemen – Cavy in the City
Es gibt ein Foto aus dem Jahr 1958, das jeder ernsthafte Student afrikanischer Musik kennen sollte: Ein junger Fela Anikulapo Kuti, frisch in Liverpool angekommen, mit einer Trompete in der Hand, kurz davor, sich am Trinity College of Music in London einzuschreiben. Diese Reise von Lagos nach London, von Tradition zu Transformation, schuf Afrobeat. Heute, 67 Jahre später, unternehmen die Brüder Kingsley Okorie und Benjamin James die umgekehrte Pilgerreise, und die Musik, die sie mitbringen, könnte ebenso revolutionär sein.
“Cavy in the City”, das dritte Studioalbum der Cavemen, ist nicht einfach ein Highlife-Album. Es ist ein Manifest dessen, was wir Londonswing nennen: diese alchemistische Verschmelzung, bei der nigerianischer Highlife, britische Produktionsästhetik und Diaspora-Rap zusammenkommen, um etwas zu schaffen, das wie eine Zukunft klingt, die sich ihrer Vergangenheit bewusst ist. Am 31. Oktober über RCA Records veröffentlicht (ein Major-Label unterstützt das Projekt – kein Underground mehr), positioniert das 13-Track-Projekt die Cavemen nicht nur als Revivalisten, sondern als Architekten eines neuen kulturellen Austauschs zwischen dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas und der afrikanischsten europäischen Stadt.
Der Londoner Stadtteil Peckham, auch „Little Lagos“ genannt, beherbergt über 178.000 Nigerianer. Hier werden Yoruba und Igbo genauso fließend gesprochen wie Englisch, westafrikanische Läden prägen die Straßen, und der Duft von Jollof Rice steigt aus fast jedem Restaurant. Hier, in der geistigen Schnittmenge von zwei Städten, die 5000 Kilometer trennen, aber durch Kolonialgeschichte und Migration verbunden sind – und mittlerweile auch durch digitale Audioflüsse und Logic Pro-Sessions –, entsteht der Londonswing.
Die Cavemen, Kingsley am Bass und Benjamin am Schlagzeug, traten 2020 mit ihrem ersten, mit den Headies ausgezeichneten Album „Roots“ auf. Sie führten Highlife einer Generation zurück, die mit den zeitgenössischeren Texturen von Afrobeats aufwuchs, ohne den ursprünglichen Sound zu verlieren. Während ihre ersten beiden Alben („Roots“ und „Love and Highlife“ von 2021) sie als Bewahrer des nigerianischen Gitarren-Highlife der goldenen Ära präsentierten, blickt „Cavy in the City“ nach außen, ohne die Heimat zu vergessen.
Das sepiafarbene Cover des Albums sagt viel: Kingsley thront auf einem überarbeiteten Holzstuhl, Benjamin steht wie ein Wächter unter einem Bogen. Es ist nicht nur ein schönes Bild, sondern eine visuelle Metapher für das Album. Königtum trifft Moderne, Tradition trifft Metropole, Lagos trifft London.
Doch was dieses Album über eine einfache „Afrobeats erobern die Welt“-Geschichte hinaushebt, ist die Zusammenarbeit mit dem britischen Indie-Soul-Produzenten Jack Peñate als Co-Produzent. Außerdem wurde der britisch-gambische Rapper Pa Salieu für „Gatekeepers“ eingeladen, ein Track, der Westafrika und Großbritannien spektakulär verbindet. In einem strategischen Zug, der ihre Ambitionen ankündigt, konnten sie die beninische Ikone Angélique Kidjo, fünfmalige Grammy-Gewinnerin und musikalische Königin Afrikas, für den zweiten Track gewinnen.
Es geht nicht um Aneignung oder Abschwächung. Es geht um Gegenseitigkeit. Es geht darum, dass die Diaspora den Kreis schließt.
Definieren wir kurz die Begriffe. Londonswing ist nicht einfach Afrobeats, der in London produziert wird. Es ist Afroswing, wie J Hus ihn vor Jahren perfektioniert hat. Londonswing entsteht, wenn nigerianische Künstler auf dem Höhepunkt ihrer traditionellen Kräfte aktiv mit der britischen Szene zusammenarbeiten, wenn die Musikindustrie bewusst aus Lagos produziert und London eher als Verstärker denn als Geschmacksrichter fungiert. Der Unterschied liegt in der Energieausrichtung: Es ist nicht Lagos, das London erreichen will, sondern Lagos lädt London zur Teilnahme ein.
Die Verbindung zwischen UK und Nigeria ist tief. Fela studierte in London, die legendäre ghanaische Band Osibisa wurde im London der 60er Jahre gegründet. Aber 2025 markiert einen Wendepunkt. Afrobeats hat nun eigene Grammy-Kategorien, Billboard-Charts, und Künstler wie Burna Boy füllen Stadien mit 80.000 Menschen in London. Die Infrastruktur ist bereit. Das Publikum ist bereit. Das Geld fließt. Und die Cavemen, mit ihren traditionalistischen Referenzen und den Mitteln von RCA, sind bereit, neues Terrain zu erobern.
„Cavy in the City“ entschuldigt sich nicht, es beansprucht Autorität. Auf 13 Tracks entfalten die Brüder das gesamte Arsenal des Highlife: groovige Basslines, Live-Bläser, Soul-Harmonien und reichhaltige Percussions, alle mit zeitgemäßer Präzision reproduziert. Entscheidend: Die Cavemen haben ihre analoge Wärme nicht gegen digitalen Glanz getauscht. Sie fanden Produzenten, die verstehen, dass die Magie des Highlife in der „Pocket“ liegt, dem winzigen Moment zwischen Bass und Talking Drum, der den Körper bewegt.
„Keep On Moving“ als zweiter Track ist eine kühne Ansage. Angélique Kidjo einzuladen, die Königin der afrikanischen Musik, eine Frau, die mit Carlos Santana bis Alicia Keys zusammenarbeitete, hätte ein Akt der Eitelkeit sein können. Stattdessen ist es eine Meisterklasse des generationenübergreifenden Dialogs. Der Swing ist ansteckend, die überlagerten Stimmen feiern das, was Highlife immer am besten konnte: Freude und Weisheit spürbar machen.
Hört man genau hin, vernimmt man Echos von Chief Stephen Osita Osadebe, Titan des Highlife, dessen Gitarrenspiel eine Ära prägte. Osadebe war einer der Giganten des goldenen Highlife-Zeitalters, und die Cavemen tragen seinen Einfluss stolz. Kidjos Stimme, ein Instrument, das afrikanische Musik seit vier Jahrzehnten auf weltweiten Bühnen trägt, fügt sich perfekt in die Harmonien der Brüder ein. Kein Zufall: Kidjo arbeitete kürzlich mit Burna Boy und Yemi Alade, was zeigt, dass Afrobeats die neue Phase der afrikanischen Popmusik repräsentiert. Auf den Groove der Cavemen übertragen, ist es wie eine weitergereichte Fackel, die sofort aufleuchtet – ein generationenübergreifender Dialog, der beide Seiten bereichert.
Es ist ein Meisterstück, die afrikanische Musikikone bereits im zweiten Track singen zu lassen. Swing und überlagerte Harmonien, eine Hommage an Osadebe, zeigen, woher die Cavemen ihre Inspiration nehmen. Ein köstlicher Track.
„Dancing Shoes“ tut genau das, was der Titel verspricht. Dieses persistente, hypnotische Gitarren-Ostinato könnte Tote wecken. Die Superkraft des Highlife in Essenz: ein Riff, so einfach, dass es alt wirkt, so perfekt platziert, dass es sich wie eine Entdeckung anfühlt. Die Cavemen verstehen, dass Komplexität nicht immer nötig ist; Unvermeidlichkeit reicht. Der Rhythmus lädt nicht nur zum Tanzen ein – er geht davon aus, dass man bereits tanzt.
„General“, co-produziert von Jack Peñate, bietet den klarsten Einblick in die Londonswing-Methodik. Hier treffen Peñates Indie-Soul-Sensibilitäten (er arbeitete mit Kate Nash und Adele im London der 2000er) auf Kingsleys treibenden Bass und Benjamins Polyrhythmik. Die Lyrics symbolisieren Königtum: ‘I’m the king, I’m the chief, I’m the champion’ – Leadership, Resilienz und Zielstrebigkeit. Ein zweiminütiges Manifest, geeignet für eine Parade in Lagos oder ein Soundsystem in Peckham.
„Paddling“ entfernt sich von der hypermodernen Album-Glanzlichtern und widmet sich etwas Persönlichem: eine Gospel-Hommage an die Mutter der Brüder. Ihre Mutter, mittlerweile Bischöfin, füllte ihr Zuhause mit Gospel, und hier taucht dieser Einfluss wieder auf – nicht als Nostalgie, sondern als Fundament. Die Stimmen, die das gesamte Album tragen, erreichen hier eine andere Dimension. Fast sakral ist, wie die Harmonien ineinandergreifen, wie die Stimmen der Brüder ein Familien- und spirituelles Glaubensgefühl verbinden.
Auf einem modernen Album erinnert „Paddling“ daran, dass Innovation nicht bedeutet, auf das zu verzichten, was einen geprägt hat. Die Brüder ehren ihre Mutter mit kompromisslosem Gospel – außergewöhnliche Gesangsqualität. Ein bewegender Moment in einem hypermodernen Album.
Dann kommt „Gatekeepers“ mit Pa Salieu – der Track, an dem der Londonswing seine Essenz zeigt. Pa Salieu, britisch-gambischer Herkunft, gewann 2021 den BBC Sound of Award, seine Fusion aus Afrobeats, Grime und UK Drill ist unverwechselbar. Sein dunkler Stil schöpft aus Tupac bis Vybz Kartel, verfeinert durch persönliche Überlebensgeschichte. In „Gatekeepers“ verschmilzt Salieus Delivery perfekt mit dem Groove der Cavemen. Überlagerte Stimmen schaffen ein Texturgewebe, das zwischen Lässigkeit und Härte, zwischen Lagos und London navigiert. Der Track handelt von Freiheit, Resilienz und Mut – die Verbindung zweier Musikkulturen.
„Onwunwa Celestine“ schließt das Album. Track 13 scheint bewusst gewählt: eine letzte Aussage über das moderne afrikanische Leben, Liebe, Chaos, Lachen, Sehnsüchte. Die Brüder bleiben inhaltlich vage, doch der Track fühlt sich wie eine Rückkehr nach einer langen Reise an, ein Kreis schließt sich.
Die Produktionscredits zeigen einen strategischen Ansatz: Kingsley, Benjamin und Jack Peñate arbeiten gleichberechtigt. Peñate bringt technisches Know-how, ohne fremde Ästhetik aufzuzwingen. Ergebnis: hypermoderne Klarheit, die die essenzielle Wärme des Highlife verstärkt. Hochwertige Produktion, aber nie steril.
Das Album bewahrt die Einzigartigkeit der Cavemen: Live-Instrumente, Bruder-Chemie, Gesang auf Igbo trotz teilweiser Sprachbarriere. Lyrics bleiben authentisch. Peñates Einfluss liegt in den Pausen, im Zusammenspiel der Bläser, in der Percussion, die mit dem Bass interagiert, in subtilen Reverbs, die Lagos und London zugleich spürbar machen.
Diaspora treibt den globalen Aufstieg von Afrobeats. Streaming bleibt in Nigeria oft schwer zugänglich, die Diaspora schafft Feedback-Loops: Erfolg fließt zurück nach Lagos, Prestige kommt von außen. „Cavy in the City“ kehrt die Richtung um: Highlife bleibt verwurzelt und wird gleichzeitig modernisiert, ohne Authentizität zu verlieren.
Die Zusammenarbeit mit Kidjo, Pa Salieu und Peñate zeigt: Highlife verdient seinen Platz neben Afrobeats, UK Drill und Co. Die Verbindung von traditioneller afrikanischer Musik mit aufstrebenden britischen Künstlern zeigt Generationen- und Länderübergreifung.
Mit „Cavy in the City“ beweisen die Cavemen: Authentizität ist der neue Modernismus. Man kann die Musik der Großeltern ehren und etwas schaffen, das für die Kinder relevant ist. Lagos und London konkurrieren nicht, sie kooperieren. Produktion makellos, organische Kollaborationen, von Kidjos Meisterschaft bis „Paddling“‘s Emotionalität und „Gatekeepers“’ Triumph, das Album bleibt identitätsstark.
Cavy in the City ist selten: ein Album, das Tradition ehrt und Zukunft aktiv gestaltet. Eine Liebeserklärung an das Erbe, ein Zeugnis von Handwerk, und ein Beweis, dass Afrikas alte Rhythmen immer noch die Welt bewegen können.
Die Cavemen setzen mit diesem Album ein Statement: klar, selbstbewusst und musikalisch brillant. Londonswing ist hier, und „Gatekeepers“ steht neben „Lion“ von Little Simz und Obongjayar als genreprägender Moment. Vergangenheit trifft Zukunft, perfekt produziert, global relevant. (9/10) (RCA)

