Ghost Shima veröffentlicht Debüt-EP “neon genesis”

Zwei Singles („matrix“, „chemie“) hat Ghost Shima in diesem Jahr bereits veröffentlicht und uns in eine Hyperpop-Utopie eingeladen, die bunter und harmonischer ist als die echte Welt – ein „emojelly rabbit hole“ zwischen Traumvorstellung und Wirklichkeit, Gegenwart und Zukunft, Computerspiel-Universum und Tanzfläche. Nun öffnet sich der Zugang zum Kaninchenbau erneut: Mit „neon genesis“ erscheint heute die Debüt-EP des Künstlers, der es vorzieht, sich der Welt als Avatar zu präsentieren.

Umso realer sind die Gefühle von Ghost Shima, die von den Überforderungen in der realen Welt handeln, von Schlaflosigkeit und Einsamkeit und dem daraus resultierenden Versuch, sich in andere Bewusstseinszustände zu versetzen, sei es durch ärztlich verordnete Hilfsmittel oder das Abtauchen in die endlosen Tiefen des Netzes. Ghost Shima, das sind letztlich wir alle, auf der Suche nach ein bisschen Lebensglück.

„Ich weiß nicht, ob ich Weltschmerz sagen würde, aber Melancholie auf jeden Fall“ – so beschrieb Ghost Shima kürzlich im Interview bei MDR Sputnik das Grundgefühl seiner Songs. „Das ist irgendwie ein Gefühl, das ich musikalisch am besten ausdrücken kann, diese Zwischenwelt aus Traurigkeit und Happiness. Da finde ich mich sehr wieder und es ist etwas, mit dem viele connecten können. Ich glaube, die wenigsten Menschen haben nur ein trauriges oder nur ein happy Leben.“

Genau aus diesem Kontrast ergibt sich die magnetische Atmosphäre der Songs: Fröhlich-bunter Hyperpop und gepitchte Vocals im Chipmunk-Style treffen auf düster treibende Beats und unvorhersehbare Brüche, helle 80er-Synthies und hochtourige Eurodance-Beats auf Burial-ähnliche, melancholisch-düstere Dubstep-Soundästhetik, trockene, holzig-gläserne Percussion auf atmosphärisch maximal aufgeladene Klangflächen, Messerscharfe Synth-Slices und technoid pulsierende Beats und Bleeps.

Und dann ist da natürlich noch Ghost Shima selbst, diese Künstler:in gewordene Mischung aus Einsen, Nullen und humanoidem Gefühlsgerüst. „Ich bin kein Artificial Artist oder quasi ein generierter Künstler“, räumt Ghost Shima im Sputnik-Interview mit dem möglichen Missverständnis auf, dass man aus seinem Avatar und den bunten Animé- und Gaming-Visuals der millionenfach angesehenen TikTok-Videos folgern könnte, es handle sich bei ihm womöglich um ein rein virtuelles Wesen. „Eigentlich bin ich ein ganz normaler Künstler, der halt nur sein Gesicht nicht zeigen will. Diese Anonymität bringt Vorteile mit sich, etwa, dass man nicht persönlich angegriffen wird im Netz und man einfach nur seine Kunst machen kann, ohne dass man Leute in sein Privatleben direkt reinlassen muss.“

Als Ghost Shima lässt uns dieser Artist dafür umso tiefer in seine Gefühls- und Gedankenwelt. „deepdive“, der erste Track der EP, handelt von nächtlichem Abtauchen aus der Realität des Bettes in den virtuellen Raum. Man sucht nichts Bestimmtes und sollte auch eigentlich längst schlafen, aber „alles viel zu schön / doch alles irgendwie entstellt“. Trotzdem: der laute, viel zu grelle Alltag ist weit weg, „es ist keiner hier, der mich hören kann, keine Gravity, die mich hier stören kann“. Und nicht nur das: hier finden wir eventuell, was wir in der echten Welt vergebens suchen, wie wir schon in der ersten Single „matrix“ lernten: „Herz schlägt schneller, wenn du mich wieder ansiehst / Dunkel wird heller, wenn du dich wieder anschließt“. So süß die Flucht in den virtuellen Raum sein kann: die Einsamkeit im realen Raum geht dadurch nicht weg. „bloody sunday“ handelt von einem Sonntag, an dem man „wie gelähmt“ auf der Couch liegt, „leerer Blick, kalte Tränen / pinke Wolken vorm Fenster“. Man will nur noch weg, will nur diese eine Person sehen und sonst niemanden. Es bleibt ein Wunsch. Und so folgt auf das Medikinet von letzter Nacht ein „pinker Drink noch als Konter“ – und wir versinken wieder in unserem Bildschirm, „folge nix / Suche nach was Echtem / Tausend Clicks“.

Ja, in diesen Songs steckt eine Menge Melancholie. Doch ebenso auch eine große Euphorie. Dazu tragen, auch daraus macht Ghost Shima keinen Hehl und reflektiert zugleich die Lebenswirklichkeit von Millionen, nicht selten Medikamente als ständige Alltagsbegleiter bei: „Ich brauch’ mehr Dopamin / Dann kann ich wieder atmen / Mir fehlt Serotonin / Dann seh’ ich wieder Farben / Ein bisschen SSRI / Dann kann ich wieder schlafen“, wie es in der zweiten Vorab-Single „chemie“ heißt, zugleich der letzte Song der EP.

„Da ist immer ein bisschen was Echtes, was Biografisches drin, und ein bisschen was Kreatives“, so Ghost Shima dazu. „Bei ‚chemie‘ zum Beispiel: Ich habe relativ oft so Schlafstörungen oder Panikattacken, kenne mich also ein bisschen damit aus. Ich glaube, was wichtig ist: dass es keine Verherrlichung ist, sondern nur eine ziemlich nüchterne Aufzählung von Sachen, die einem helfen können in der Situation.“

Die ganze EP „neon genesis“ ist in diesem Sinne Hilfe in einer Situation – der Situation, als Individuum seinen Platz zwischen der immer intensiven Lebensrealität und den immersiven Zerstreuungen des virtuellen Raumes zu finden. Weltflucht gibt es nicht erst seit gestern – auch in der Musik nicht, wo bereits Ende des 18. Jahrhunderts die klassische Musik als ein bevorzugtes Mittel des Eskapismus galt. Und doch ist sie heute aktueller denn je. Ghost Shima liefert dafür den perfekten Soundtrack.

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