Kreidler – Early Recordings 1994-95
Irgendwo in einer ehemaligen Bäckerei in Düsseldorf, im Sommer 1994, geschah etwas Bemerkenswertes. Vier junge Kunststudenten, Thomas Klein, Andreas Reihse, Stefan Schneider und Detlef Weinrich, drückten ‘record’ auf einem bescheidenen 4-Track-Kassettenrekorder und hielten fest, was später die Grundlage einer der konsequentesten experimentellen Bands Deutschlands werden sollte. Diese Aufnahmen, dreißig Jahre vergessen, sind nun endlich würdevoll auf “Early Recordings 1994-95” gebündelt. Für Sammler, die jahrelang vergeblich Discogs nach der originalen RIVA-Kassette durchforstet haben, ist dies, als würde sich die Höhle von Ali Baba endlich öffnen.
Es ist verlockend, Kreidler als weitere Epigonen der großen Düsseldorfer Tradition, Kraftwerk, NEU! und DAF, abzutun, aber das würde der Band schwer Unrecht tun. Während Kraftwerk die Zukunft als polierte, automatisierte Utopie präsentierte, sucht Kreidler die Reibung zwischen Mensch und Maschine. ‘Wir sind eine Band, die elektronische Elemente in ein lebendiges, atmendes Ganzes integriert,’ erklärte Bassist Alex Paulick kürzlich in einem Interview für Maxazine. ‘Nicht umgekehrt.’ Diese Philosophie, der menschliche Faktor im digitalen Zeitalter, zeigt sich bereits in den ersten Tönen dieses Archivalbums und bildet den Kern der Identität von Kreidler.
“Early Recordings 1994-95” ist keine gewöhnliche Zusammenstellung. Es vereint die originale RIVA-Kassette von 1994 mit dem namenlosen Finlayson-Mini-Album von 1995, beide damals in winziger Auflage veröffentlicht und jahrzehntelang unauffindbar. Auffallend ist, wie vollständig der Klang bereits war. Der Opener “Beginn / Drücken” etabliert sofort den typischen Kreidler-Groove: nicht die straffe Mechanik von NEU!, sondern etwas Organischeres, Unberechenbareres. Dies ist keine Musik, die maschinelle Perfektion anstrebt, sondern die Unvollkommenheit des Menschlichen feiert.
Die deutsche Szene der frühen 1990er Jahre war eine seltsame Übergangszeit. Die Mauer war gefallen, die alte Garde des Krautrocks galt als Museumsstoff, und Düsseldorfs Altstadt, das raue Studentenviertel rund um die Kunstakademie, brodelte etwas Neues. Während in den USA Post-Rock-Bands wie Tortoise die instrumentale Popmusik mit Jazz-Einflüssen neu erfanden, suchte Kreidler einen anderen Weg: Dub-Echos, Spoken Word und die Weigerung, sich an das zu halten, was eine ‘experimentelle elektronische Band’ sein sollte. Das Ergebnis klingt auch dreißig Jahre später noch befreiend unklassifizierbar.
Nehmen Sie “Tierfilm”, endlich nach drei Jahrzehnten aus der Dunkelheit hörbar, mit seinem wackeligen Dub-Rhythmus, der auf einer See von Tape-Hiss zu treiben scheint. Oder “Charles Wilp fotografiert Muhammed Ali”, ein fröhlicher, fast tanzbarer Track, der die Ernsthaftigkeit vieler Post-Rock-Stücke mit einer ordentlichen Portion Humor unterläuft. Aber der absolute Höhepunkt ist zweifellos “Angst”. Die Fehlfarben-Coverversion, bei der Julia Friedrich den Text über einen nervösen, abgehackten Rhythmus spricht, ist weit mehr als eine Hommage an Mitbürger. Während das Original ein ska-artiges Postpunk-Lied war, dekonstruiert Kreidler es vollständig und baut es zu einem völlig eigenen Konzept wieder auf. Es ist, als würden sie den Bauplan der deutschen New-Wave-Vergangenheit nehmen und durch eine völlig andere Linse betrachten: langsamer, bedrohlicher, abstrakter. Dies ist Dekonstruktion im wörtlichsten Sinne, und das Ergebnis ist brillant.
Dann gibt es noch “Bikini”, ein Track, der einen direkt in diese ehemalige Bäckerei versetzt. Man steht neben der Band in ihrem Proberaum. Die Bassdrum kriecht über den Spanplattenboden nach vorne, droht sich zu lösen und muss mit Klebeband fixiert werden. Die Synthesizer schlängeln sich wie Zigarettenrauch durch den Kopf, während der Bass in die Oberschenkel hämmert. Es ist roh, ungeschliffen und genau deshalb so unwiderstehlich echt. Dies ist keine Musik, die vorgibt, in einem teuren Studio aufgenommen zu sein; dies ist der Proberaum, in all seiner glorreichen Unvollkommenheit.
Hier liegt auch die Gefahr: Ist dieses Album hauptsächlich als Archivstück interessant? Ein Sammlerstück für Hardcore-Fans, die seit Jahrzehnten dabei sind? Eine berechtigte Frage. Tracks wie “Sportfläche” sind eher Atmosphärenimpressionen als fertige Kompositionen. Aber was dieses Album überragt, ist seine Aufrichtigkeit. In einer Zeit, in der, wie Paulick im selben Interview warnte, ‘wöchentlich mehr als 9000 KI-generierte Tracks auf Streaming-Plattformen erscheinen’, wirkt “Early Recordings” wie ein Statement. Dies ist Musik von Menschen, die gemeinsam in einem Raum stehen, Fehler machen, deren Schlagzeuger wegen Rückenschmerzen nur zehn Minuten am Kit sitzen kann, deren Auto auf dem Weg nach Hamburg zerstört wird.
Und genau das macht Kreidler zeitlos. Während Kraftwerk immer eine gewisse Distanz kultivierte, der Mensch als Maschine, ist Kreidler zutiefst menschlich. ‘Der Groove, den man durch unsere gesamte Arbeit hört, entsteht daraus, dass wir im Wesentlichen eine Band sind, die zusammen spielt,’ sagte Paulick. Auf “Early Recordings” hört man diese Wahrheit voll ausgeprägt: in der Art, wie “Boccia” langsam auseinanderbricht, im melancholischen Abschluss “Im Betrieb (IV)”, das klingt wie Miles Davis’ “In a Silent Way” neu interpretiert für eine Generation, die mit Techno aufgewachsen ist.
Ihr Label, BuroB, hat mit dieser Wiederveröffentlichung der Musikgeschichte, aber vor allem Kreidler selbst, einen Dienst erwiesen. Diese Aufnahmen dokumentieren nicht nur den Beginn einer Band, sondern auch eine Philosophie: dass experimentelle Musik nicht auf Kosten des Gefühls gehen muss, dass Elektronik nicht bedeutet, dass die menschliche Note verschwindet. ‘Wir werden weiterhin Musik machen, solange wir das Gefühl haben, dass es von Bedeutung ist,’ sagte Paulick. Auf Grundlage dieser frühen Aufnahmen führte dies seit 1994 irgendwohin. Dreißig Jahre später immer noch. (8/10) (BuroB)

