Kreidler: Der menschliche Faktor in einem digitalen Zeitalter
|Es gibt Bands, von denen man vielleicht noch nie gehört hat, die aber seit Jahrzehnten einen unauslöschlichen Eindruck in der Musikwelt hinterlassen. Kreidler ist eine solche Band. Die deutsche Formation aus Berlin, die 1994 gegründet wurde, hat im Laufe der Jahre auf allen wichtigen Bühnen gespielt.
Als ihr neues Album „Twists (A Visitor Arrives)“ Anfang dieses Jahres veröffentlicht wurde, waren die Redakteure von Maxazine sofort beeindruckt. Das Album erhielt eine 9 – eine Bewertung, die wir selten vergeben und die nur Alben vorbehalten ist, die sich über das Gewöhnliche erheben. Diese hohe Bewertung ist umso bemerkenswerter, da bei Maxazine die 10 nur Alben vorbehalten ist, die sich über die Jahre hinweg als Meisterwerke bewiesen haben. Grund genug, kurz nach ihrem denkwürdigen Konzert im FFT in Düsseldorf ein Zoom-Gespräch mit Alex Paulick und Andreas Reihse zu führen.
„Die 9 für ‚Twists‘ war eine schöne Überraschung“, lächelt Andreas Reihse durch den Bildschirm. „Aber das Lustige ist, dass viele uns immer noch als experimentelle elektronische Studioband sehen, obwohl es die organische Basis aus Schlagzeug, Bass und Synthesizern ist, die uns definiert.“
Alex Paulick, dessen Basslinien das Rückgrat von Kreidlers unverkennbarem Sound bilden, nickt zustimmend. „Dieser Groove, den man in all unseren Werken hört, kommt daher, dass wir im Kern eine Band sind, die zusammen spielt. Ohne diese Live-Dynamik könnte Kreidler niemals so klingen, wie wir es tun.“
„Nimm einen Track wie ‚Arithmetrique‘“, fügt Reihse hinzu. „Wie vieles von unserem Material entstand er aus einer Art geleitetem Jam im Studio. Wir arbeiten innerhalb eines vorgefassten Rahmens von wechselnden rhythmischen Mustern, aber die Magie passiert im Zusammenspiel.“ Er erklärt, wie die Band jede Idee im Detail erkundet und verfeinert, bis alles passt.
„Es ist ein Irrglaube, dass wir eine elektronische Band sind, die ein paar Instrumente benutzt“, betont Paulick. „Es ist genau umgekehrt: Wir sind eine Band, die elektronische Elemente in ein lebendiges, atmendes Ganzes integriert. Kreidler: Der menschliche Faktor in einem digitalen Zeitalter. Deshalb schätzen uns die Leute – diese Kombination aus einem soliden Groove und elektronischen Texturen.“
Dieser Ansatz hat dazu geführt, dass „Twists“ eines ihrer zugänglichsten, aber auch vielschichtigsten Alben ist. Es ist eine Platte, die zeigt, dass experimentelle Musik nicht auf Kosten der physischen Wirkung gehen muss, die eine gute Rhythmusgruppe haben kann.
Das Gespräch über Kreidlers Kern bringt Alex Paulick zurück zu seinen ersten Tagen mit der Band. „Ich erinnere mich, wie ich in einen Proberaum ohne Bildschirme kam. Nur Instrumente, Verstärker und ein paar Effektpedale. Diese Direktheit hatte etwas Reines.“ Er lächelt bei der Erinnerung. „Jetzt gibt es natürlich auch Laptops, aber wir versuchen, das Gleichgewicht zwischen analog und digital zu bewahren.“
„Was mich wirklich beschäftigt“, fährt Paulick fort, seine Stimme nimmt eine spürbare Intensität an, selbst über Zoom, „ist, dass es jetzt wöchentlich über 9000 Tracks auf Streaming-Plattformen gibt, die vollständig von KI generiert werden. Ohne menschliches Eingreifen, ohne Seele.“ Er lässt seine Worte wirken. „Wir sprechen nicht über eine theoretische Zukunft – das passiert jetzt.“
Man merkt dem Bassisten an, dass ihn das Thema tief bewegt. „Das Problem geht viel tiefer, als die meisten Menschen denken. KI arbeitet mit Algorithmen, die auf der Analyse großer Datenmengen basieren. Was dabei herauskommt, sind per Definition risikofreie Durchschnittswerte – eine Art musikalischer kleinster gemeinsamer Nenner.“ Seine Frustration ist spürbar, als er fortfährt: „Aber Kunst, echte Kunst, entsteht an den Rändern, durch das Eingehen von Risiken, durch den Mut, zu scheitern.“
Reihse nickt zustimmend. „Schau dir die Geschichte der elektronischen Musik an. Kraftwerk, NEU!, all diese Pioniere – sie haben Musik gemacht, die niemand zuvor gehört hatte. Sie haben etwas Neues geschaffen, indem sie Grenzen überschritten, indem sie experimentierten. KI kann das nicht. Sie kann nur reproduzieren, was bereits existiert, Durchschnittswerte dessen berechnen, was schon gemacht wurde.“
„Es ist eine Form des kulturellen Verfalls“, fügt Paulick hinzu, jetzt sichtbar bewegt. „Jeder KI-generierte Track, der gestreamt wird, nimmt den Platz von Musik ein, die aus menschlicher Erfahrung, aus echten Emotionen, aus dem Leben selbst entstanden ist. Das Niveau der Musik sinkt nicht, weil KI schlechte Musik macht – es sinkt, weil KI perfekte Mittelmäßigkeit produziert.“
Die Essentials-Playlist, die Kreidler für Spotify zusammengestellt hat, ist eine überraschend intime Reise durch ihre musikalische Erinnerung. „Das Faszinierende war“, sagt Reihse, auf der Suche nach den richtigen Worten, „wie wir bei der Zusammenstellung mit unseren Waisen konfrontiert wurden – Tracks wie ‚Ceramic‘ und ‚Evil Love‘, die in unserem kollektiven Gedächtnis in den Hintergrund geraten waren.“
„Es war wie das Öffnen eines alten Fotoalbums“, beschreibt Paulick. „Jeder Track, den wir wieder hörten, brachte eine Welle von Erinnerungen – nicht nur an das Musikmachen, sondern auch an die Emotionen, die persönlichen Geschichten, die in jeden Akkord, jede Basslinie eingewebt sind.“ Er lächelt. „Es sind genau die Songs, die man fast vergessen hatte, die plötzlich am hellsten strahlen.“
So wurde die Liste viel mehr als nur eine Sammlung der „besten“ Tracks. „Sie wurde zu einer Art musikalischer Autobiografie“, gesteht Reihse. „Tracks, die vielleicht nicht unsere bekanntesten sind, die aber den Geist von Kreidler perfekt einfangen – diese ständige Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Experiment und Gefühl, zwischen dem Gedachten und dem Gefühlten.“
Als das Gespräch auf die Zukunft kommt, auf das, was nach „Twists“ kommt, fällt die Antwort so natürlich wie ihre Musik selbst aus. „Wir experimentieren eigentlich immer, nehmen immer auf“, sagt Reihse. „Es ist wie das Pflanzen musikalischer Samen – manche keimen sofort, andere brauchen Jahre, um zu blühen.“
„Es gibt immer Experimente“, räumt Paulick ein, „aber der Unterschied zwischen einem Experiment und einem Konzept ist wie der Unterschied zwischen einer Skizze und einem Gemälde. Man spürt, wenn etwas mehr werden will.“ Er lächelt geheimnisvoll. „Mit Kreidler weiß man nie, ob das nächste Album 2026 kommt oder erst 2062.“
Eine Mischung aus Resignation und Entschlossenheit schwingt mit, als Reihse und Paulick über ihre Position in der heutigen Musikwelt nachdenken. „Uns ist sehr bewusst, dass eine Band wie Kreidler sich immer weiter vom Mainstream entfernen wird“, sagt Reihse. „In einem Ozean aus kommerzieller und KI-generierter Musik sind wir ein kleines Schiff, das seinen eigenen Kurs verfolgt.“
„Aber das ist in Ordnung“, fügt Paulick hinzu. „Wir werden Musik machen, solange wir das Gefühl haben, dass es wichtig ist – für uns selbst und für die Menschen, die sich noch die Mühe machen, zuzuhören, unsere Konzerte zu besuchen.“ Er lächelt. „In gewisser Weise war das schon immer unsere Position – gegen den Strom zu schwimmen, Musik zu machen, die nicht in die Schablonen passt.“
Die Hoffnung, bald wieder auf die Bühne zurückzukehren, ist da, aber wie bei allem bei Kreidler geschieht es, wenn die Zeit reif ist. In einer Welt, die sich immer schneller dreht und zunehmend automatisiert wird, bleibt Kreidler ein Leuchtturm der Menschlichkeit – ein Beweis dafür, dass echte Innovation immer noch aus der Chemie zwischen Menschen entsteht, die sich trauen, das Unbekannte zu suchen.