Die Delines: Geschichten menschlicher Resilienz, die zur Kunst gemacht wurden

Ihr neues Album „The Sea Drift“ ist ein mehr als würdiger Nachfolger des Meisterwerks „Imperial“, das den Delines die verdiente Anerkennung eingebracht hat. Die Band aus Portland, Oregon um den Schriftsteller Willy Vlautin und seine Muse, die Sängerin Amy Boone, haben ihren Sound auf dem neuen Album nicht vertieft, sondern erweitert. Besonders arrangiert klingt das neue Album cineastischer, was die unvergleichlichen Gesangsinterpretationen von Amy Boone noch schöner macht. „The Sea Drift“ ist wieder einmal ein Meisterwerk geworden.

Die Veröffentlichung des neuen Albums und die bevorstehende Europatournee der Band sind Grund genug, mit Vlautin und Boone zu sprechen, um mehr über diese Band zu erfahren, die immer mehr die Herzen von Musikliebhabern erreicht und es schafft, die Nähte der Gesellschaft zu durchbrechen mit gezielten Liedern. Über eine perfekt funktionierende Zoom-Verbindung spreche ich mit Willy Vlautin und Amy Boone im sonnigen Portland. Ich bin froh, dass Amy auch dabei ist, da sie die Ehre für ein Interview normalerweise Vlautin überlässt.

Beide tragen auch während des Interviews eine Mundmaske. Amy erklärt warum. ‘Ja, tut mir leid, ich will nicht unhöflich sein, aber wir sind gerade wieder auf einem Höhepunkt der Infektionen und da wir unsere Tour nicht noch einmal verschieben wollen, wollen wir hier kein Risiko eingehen. Die Krankenhäuser sind hier wieder voll, man hat wirklich ein Problem, wenn man sich ein Bein bricht, also wollen wir damit sehr vorsichtig sein.’

Jetzt, da „The Sea Drift“ herausgekommen ist, ist klar, dass The Delines sich in einem breiteren musikalischen Sinne entwickelt haben, anstatt textlich oder konzeptionell noch tiefer zu gehen.
‘Das stimmt’, stimmt Vlautin zu. ‘Weißt du, wir haben uns wirklich vorgenommen, mehr mit den Arrangements zu machen. Wenn man einen Musiker wie Cory Grey in der Band hat (Keys und Horn), muss man ihn auch optimal einsetzen. Ich habe viele der neuen Songs mit der Absicht geschrieben, dass Cory kommen und sehr schöne Arrangements für Streicher und Bläser darauf schreiben würde.’ Amy Boon fügt hinzu, dass „Imperial“ eher als Konzeptalbum gesehen werden kann.Auf ‚Imperial‘ haben wir euch Charlie, Sonny, Holly, Eddie & Pollly vorgestellt, die ihre eigenen Lebensgeschichten haben, die unsere Songs füllen.’ Auf ‘The Sea Drift’ gibt es Songs, die mehr für sich stehen, ohne die Erzählung von den ausgefransten Enden unserer Gesellschaft zu zerstören, über die Willy so gut schreiben kann’,
Willy fügt lachend hinzu: ‘Für diese ausgefransten Kanten bin ich tatsächlich verantwortlich. Es ist eine Seite der Menschlichkeit, die mich anzieht. Über alles andere kann ich kaum schreiben. Meine Bücher handeln auch vom Rand der Gesellschaft. Wenn ich „Imperial“ mit „The Sea Drift“ vergleiche, dann handelt „Imperial“ aus meiner Sicht als Schriftsteller von Menschen, die in ihrem Leben fast am Tiefpunkt sind, alles geht schief und es scheint kein Zurück mehr zu geben. „The Sea Drift“ handelt von Menschen, die am tiefsten Punkt waren und langsam aber sicher nach einem Weg zurück nach oben suchen.’

Es gibt eine kurze Stille und er fügt hinzu: ‘Okay, das gilt für alle Songs auf dem Album, außer für „Little Earl“, in dem es um zwei Brüder geht, die gemeinsam einen Minimarkt überfallen haben, von denen einer im Flug beschwipst ist. Nicht gerade ein Duo auf Erfolgskurs. Ich mag es, Leute mit meinen Texten mitten in eine solche Geschichte zu werfen und die Musik, die wir mit der Band machen, dann zum Soundtrack dieser Geschichte zu machen. Dass wir mit diesen schönen Streichern und Bläserarrangements einige düstere Geschichten auf ästhetisch schöne Weise erzählen können.’ Gerade weil es alles Songs sind, die sich mit den dunklen Seiten des menschlichen Daseins auseinandersetzen, stellt sich die Frage, wie man als Sänger all diese Songs so authentisch und glaubwürdig vortragen kann.

‘Für mich sind diese Zahlen echt’, antwortet Amy. ‘Ich erkenne den Inhalt dieser Songs, es geht nicht um mich, aber ich kenne diese Situationen aus erster Hand. Für mich sind Willys Texte keine Fiktion, ich verstehe die emotionale Aufladung unserer Songs nur zu gut, und manchmal ist es verdammt schwer, das zu singen, gerade weil es für mich so real ist.’ Amy verstummt für einen Moment, bevor sie etwas leiser fortfährt: ‘Ich habe kürzlich mit Corey darüber gesprochen, dass Willys Texte so unglaublich gut sind, dass es sich manchmal anfühlt, als würde ich in einer Zeitkapsel in meine eigene Kindheit zurückversetzt.’ Willy fühlt sich berufen, etwas mehr beizutragen. ‘Es ist nicht so, dass sich alle Songs von Delines nur um Elend drehen. Natürlich sind die Geschichten grau und dramatisch, aber als Autor möchte ich auch vermitteln, dass die Hauptfiguren in diesen urbanen Geschichten immer eine große Widerstandskraft und einen großen ausdauer haben. Sie kämpfen darum, an die Spitze zu kommen.’

Auffallend ist, dass jedem Hörer klar sein wird, dass die Songs buchstäblich für Amy geschrieben sind, das war schon auf den Vorgängeralben „Colfax“, „Scenic Sessions“ und „Imperial“ der Fall. Ich frage beide, wie Amy zu Willys Muse wurde. Amy lacht über das Wort ‘Muse’, lässt sich aber ein. ‘Das ist eine lange Geschichte, aber ich werde versuchen, sie in der kürzest möglichen Version zu erzählen.’ ‘Mach weiter, Boone’, stimmt Willy zu. ‘In den 1990er Jahren sang ich bei den Damnations und Willy hatte bereits seine eigene Band Richmond Fontaine. Wir tourten mit diesen beiden Bands, sahen uns also oft und freundeten uns an. Willy bat dann meine Schwester Deborah Kelly, die auch bei den Damnations sang, zwei Songs auf Richmond Fontaines Album „Post to Wire“ zu singen.Als Richmond Fontaine später auf Tour ging, fragte Willy, ob meine Schwester mitkommen würde, aber sie war jetzt mit meinem Neffen schwanger, also ging ich stattdessen mit ihr. Also habe ich einem Neffen aus dieser Situation ein neues Bad hinterlassen, denn als Willy wenig später anfing, die Delines zu gründen, bat er mich, zu kommen und zu singen.’

Willy nickt zustimmend, hat aber noch etwas hinzuzufügen. ‘Viele Leute wissen nicht, was für eine großartige Band die Damnations waren. Ich hatte nur Angst, sie zu bitten, auf meinem Lied zu singen. Später, als Amy mit uns auf Tour war, erstaunte sie mich jedes Mal, wenn ich sie alleine singen hörte. Ich habe mich total in die Stimme verliebt. Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass ich The Delines speziell dafür geschaffen habe, mit Amy als Sängerin in einer Band zu arbeiten und Songs nur für sie zu schreiben. Einer meiner Lieblingsmomente beim Spielen in den Delines bleibt, wenn Amy anfängt, ihre Parts im Studio zu singen, und ich mich ihnen im Regieraum des Aufnahmestudios anschließe. Amy berührt mich immer noch jedes Mal, wenn sie singt.’ Amy zuckt sichtlich unter so vielen Komplimenten zusammen und wird sogar rot. ‘Stimmt aber’, fügt Willy ihr hinzu, während er sich wegen Corona sichtlich anstrengen muss, sie nicht zu umarmen.

Die bevorstehende Tour von The Delines beginnt am 19. April in Oslo, Norwegen und wird die Band nach Schweden, Dänemark, Deutschland, Belgien, die Niederlande, Irland und Großbritannien sowie nach Norwegen führen. Das neue Album „The Sea Drift“ ist ab dem 11. Februar überall erhältlich und kann auf allen Streaming-Plattformen angehört werden.

Titelfoto: Pressefoto
Sonstige Fotos: (c) Perry Hermans, Maxazine

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